Kurz vor dem Abstimmungssonntag am 27. November habe ich meine Mailbox durchgeschaut. Hat mir jemand eine persönliche Email geschrieben, um für ein Ja für die Atomausstieg-Initiative zu werben? Das Resultat meiner Kurzrecherche: Nope, niemand hat sich gemeldet.
Dafür habe ich in den letzten Tagen mindestens ein Dutzend Newsletters erhalten mit Titel wie «Jetzt abstimmen!» oder «So schaffen wir den Ausstieg». Die Absender waren Parteien, Organisationen und einige PolitikerInnen, die mich mit einer personalisierten Anrede ansprachen, aber gleichzeitig die Email an Tausende andere schickten. Für mich ist das kommunikatives Dosenfutter, das mich selten anspricht.
Auf auf Facebook und Twitter fällt das Resultat gleich aus: Ich habe viele Clips und Aufrufe gefunden, aber keine an mich persönlich gerichtete Message aus meinem Freundeskreis «Daniel, geht doch bitte abstimmen!».
Eine Ausnahme war Silvan, der im Büro vorbeikam und einen Anti-Atomsticker an meinen Monitor klebte. Die kleine Intervention war sehr wirksam. Der Kleber erinnerte mich jeden Tag daran, dass ich noch nicht per Brief abgestimmt habe.

Monitor mit Sticker: Guerilla-Aktion von Silvan.
Diese Bilanz ist für mich ziemlich irritierend, war doch die Atomausstiegs-Kampagne in den Medien extrem sichtbar und hat – was auffällt – die Gegnerschaft mit einem offensiven Agenda-Setting vor sich her getrieben. Die Ja-Kampagne hatte, in den grossen Städten wie Zürich, Basel und Bern, genug Budget, um mit Plakaten starke Präsenz zu markieren.
Warum hat die Mobilisierung beim emotionalen Dauerbrenner «Atomausstieg» nicht stärker gegriffen? Ein Grund ist sicher bei der Kampagnen-Konzeption zu suchen. Die Strategie setzte auf die drei Pfeiler Marketing (Plakate, Inserate), Medienarbeit und Top-Down-Mobilisierung via Mitgliederorganisationen.
Eine Ausnahme war die professionell aufgezogene Mitmach-Kampagne von Greenpeace im Kanton Zürich, die in der bildstarken Aktion vor dem Grossmünster gipfelte. Im Gegensatz zur nationalen Kampagne wurden deutlich mehr Mittel in Multiplikatoren investiert, 4’500 Telefongespräche geführt und mehr als 15’000 handgeschriebene Postkarten verschickt.
Positiv aufgefallen sind mir auch die gut gemachten Social Media-Inhalte. Sie kamen aber – zumindest in meiner Facebook-Timeline – meist aus der gleichen Ecke und zogen keine breiten Kreise (nur der Clip von Vincent Verzat war in der Romandie ein Blockbuster).

Fotoaktion von Greenpeace in Zürich.
Die Atomausstieg-Kampagne zeigt, dass in der Schweiz darauf vertraut wird, die Stimmberechtigten mit Plakaten, Inseraten und Streuwürfen sowie mit flankierender Medienarbeit für die Stimmabgabe zu gewinnen. Die indirekte Mobilisierung ist vermutlich nicht sehr effektiv, zeigt doch die Wahlforschung, dass insbesondere direkte Kontakte, aus dem sozialen Umfeld, darüber entscheiden, ob jemand abstimmt oder nicht.
Deshalb haben sich in anderen Ländern die GOTV-Mobilisierung etabliert, um im dem Direktkontakt an der Haustüre, am Telefon oder mit persönlichen Email die Wählerinnen und Wähler abzuholen. Auch die SP Schweiz setzt seit 2015 aufs Telefon, um vor Wahlen möglichst viele 1-zu-1-Gespräche zu führen.
Zweifellos fehlen vielen Kampagnen die Mittel und die Freiwilligen für Telefonkampagnen. Doch die nächste beste Option sind Email-Adressen. Die Ja-Kampagne für einen geordneten Atomausstieg hätte – über die beteiligten Partien und NGO – sicherlich Zugriff auf weit über 100’000 Email-Adressen gehabt.
Die Ausgangslage ist vergleichbar mit dem Referendums-Abstimmung gegen die 2-Gotthardröhre, bei der ich für die Online-Kampagne zuständig war. In einer Zeitspanne von rund 2 Monaten konnten wir aus bestehenden Email-Kontakten rund 10’000 Aktivistinnen und Aktivisten rekrutieren (Opt-In), die sich aktiv an der Schlussmobilisierung beteiligt haben.
An diese Kampagnen-Community haben wir pro Woche 2-3 Emails verschickt. Wichtig zu bemerken ist, dass es sich um keine Newsletter handelte, sonder um Campaigning-Emails, also personalisierte Kommunikation auf Augenhöhe, die auf Dialog und Mobilisierung abzielten.
Die Rückmeldungen zeigten, dass die Message ankam. Auf jedes Email erhielten wir jeweils einige Hundert Antworten. Hier ein paar Beispiele dafür:
Die briefliche Abstimmung ist bereits erledigt und meine 20 Bekannten werden laufend mit Deinen Emails versorgt. Einige davon haben mir bestätigt, dass sie von anfänglichen BefürworterInnen zu GegnerInnen geworden sind! Gut, gell?
ich habe 105 mails verschickt!! Und meine Tochter hat morgen in der Schule (Gymi) eine Pro und Contra Runde zum Thema. Sie ist voll informiert und leidenschaftlich mit dabei!!!
Ich habe das Plansoll erfüllt und gegen 45 Bekannte und Freunde angesprochen.
Wie gross die Breitenwirkung dieser Community war, lässt sich nicht genau messen. Ein Anhaltspunkt war die Selbsteinschätzung der Aktivistinnen und Aktivisten, die in einer Umfrage angaben, durchschnittlich mindestens 12 Personen direkt ansprechen zu wollen. Nimmt man diese «Selbstdeklaration» als Anhaltspunkt hätten wir über Email rund 100’000 Menschen über private Kanäle für die Urne mobilisieren können.
Aus dieser Erfahrung denke ich, dass GOTV-Strategien in Zukunft für die Schweiz zum Standard werden. Gerade bei knappen Abstimmungen macht es Sinn, deutlich mehr Mittel in die Bottom-Up-Mobilisierungen zu investieren.