Heute hat Solidar Suisse eine für die Schweiz neuartige Kampagne gestartet. Die Mitglieder der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates (APK-N) haben in den letzten Stunden über 1000 Emails erhalten.
Absender sind BürgerInnen, die bestürzt darüber sind, dass das geplante Freihandelsabkommen mit China die Menschenrechte ausklammert. Das Wort «Menschenrechte» sucht man vergeblich in den über 1000 Seiten des Vertragstextes. Die Parlamentarier der APK-N diskutieren am Montag 21. Oktober 2013 über das Freihandelsabkommen. Bisher deuten alle Anzeichen darauf hin, dass der umstrittene Vertrag geräuschlos durchgewunken wird.
Interessant ist die Mechanik, die hinter der Kampagne steht. Für Aufmerksamkeit sorgt, wie bereits bei anderen Kampagnen, ein witzig gemachter Youtube-Clip. Der Still ist darauf ausgelegt, dass das Video möglichst oft via Social Media geteilt wird und so BesucherInnen auf die Website Solidar Suisse bringt.
Die Neuheit verbirgt sich hinter der Website. Ein Modul verschickt automatisch an alle Nationalräte der APK-N persönlich adressierte Emails. Die Absender können dazu den vorgeschlagenen Text frei anpassen.
Es ist meines Wissens das erste Mal, dass Schweizer ParlamentarierInnen die Wucht einer Empörungswelle zu spüren bekommen. Im Gegensatz zu organisierten Protesten via Facebook und Twitter treffen Emails das Rückgrat der Alltagskommunikation. Einige Hundert Emails im Sekundentakt reichen aus, um ein Postfach komplett zu fluten.
Kein Wunder also, dass sich die betroffenen Parlamentarier als Opfer eines «Shitstorms» betrachten. Ein überquellendes Postfach ist keine Freude. Das Abarbeiten kosten Zeit und Nerven. Gleichzeitig handelt es sich bei den Absendern der Solidar-Aktion nicht um einen anonymer Mob, sondern um – zum grossen Teil vermutlich wahlberechtigte – Bürgerinnen und Bürger, die sich mit vollem Namen und Email-Adresse für ein Anliegen stark machen.
Ich bin gespannt, wie die PolitikerInnen auf die Email-Welle reagieren, zumal sich die Absender explizit «über eine Antwort freuen» würden, wie es im Standard-Text heisst.
UPDATE 17.10.13 21:56
Solidar Suisse hat vor kurzem die Email-Aktion an die ParlamentarierInnen beendet. Insgesamt wurden 1’017 persönlich andressierte Emails an die Mitglieder der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats verschickt (APK-N). Die Botschaft sei angekommen, schreibt Solidar Suisse.
UPDATE 19.10.13
Neben der Tagesschau berichtete auch der Blick über die 1000-Email-Aktion und titelte «Spam-Terror wegen Freihandelsabkommen». Bürgerlichen PolitikerInnen wie Kommissionspräsident Andreas Aebi, die für das umstrittene Freihandelsabkommen sind, beschwerten sich über die kontraproduktive Aktion für die Menschenrechte. Wer dem Geschäft kritisch gegenübersteht, wie die St. Galler Nationalrätin Claudia Friedl, zeigte durchaus Sympathie für die Aktion.
Sicher ist: Eine Email-Welle muss gezielt und sparsam eingesetzt eingesetzt werden. Sie gehört nicht zu den Standardmassnahmen für Campaigning.
UPDATE 22.10.13 14:02
Die Kommission winkt das umstrittene Freihandelsabkommen durch: Mit 14 zu 6 Stimmen hat sich die APK-N für die Genehmigung des vom Bundesrat ausgehandelten Abkommens ausgesprochen. Mit 15 zu 6 Stimmen abgelehnt wurde der Antrag, den Bundesbeschluss dem fakultativen Referendum zu unterstellen. (Quelle: Medienmitteilung).
Disclaimer: Ich habe bei dieser Kampagnen nicht mitgearbeitet. Meine letzte Online-Aktion für Solidar Suisse war der FIFA-Hack.
Hmm… Was ist daran jetzt wirklich neu? Protestmail-Aktionen gab es ja schon viele (auch an Paralmentarier gerichtet). Interessant finde ich die Flut von bereits 600 Emails, wenn man bedenkt, dass das Video bis jetzt erst gut 1800 Views hat (und die URL von Solidar nicht mal korrekt verlinkt ist in der Beschreibung). Weisst du ev. etwas über weitere „Anschubmassnahmen“?
Konzept ist nicht neu, aber viel effektiver als bisher. Habe kurz mit Nationalrat telefoniert. Er meint, dass 30-50 persönlich adressierte Protest-Emails schon vorgekommen sind, aber nicht 600 in ein paar Stunden. Oder kennst du ein anderes Beispiel?
Wegen Anschub-Massnahmen: Solidar hat eine engagierte Basis von Online-AktivistInnen, die bei solchen Aktionen ein sicherer Wert sind.
Dacht ich mirs doch. 😉 Und ja, das Volumen finde ich auch bemerkenswert.
Die Views auf Youtube werden übrigens nicht in Echtzeit angezeigt. Die 1800 (oder jetzt im Moment 3000) Views sind deshalb nicht aussagekräftig.
Danke für den Hinweis! Finde Verhältnis zwischen Views und Aktion trotzdem interessant. Zeigt für mich, dass Solidar auf eine kleine, sehr aktive Community zählen kann. Die virale Verbreitung des Clips war in den ersten 24 Stunden, so viel ich beurteilen kann, eher bescheiden im Vergleich zu anderen Kampagnen, oder?