Campaigning, Digitale Demokratie, Menschenrechte, Netzpolitik, Social Media

Chaotischer Pluralismus: Wie Crowd-Kampagnen unsere Demokratie auf den Kopf stellen

Wie kann die Zivilgesellschaft effizienter und mit Erfolg dazu beitragen, die Demokratie weiter zu entwicklen? Diese Frage beschäftig mich gerade. Auf Einladung von LevizAlbania nehme ich an der «Woche der lokalen Demokratie» teil, die in Tirana statt findet und von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA unterstützt wird.

In meinem Workshop «How to run a campaign and win it» werde ich auch über ein Phänomen sprechen, das als «Crowd-Kampagne» beschrieben werden könnte. Träger dieser neuen Art von Mobilisierung sind spontane Netzwerke von Einzelpersonen, die sich jenseits von Parteien, Verbänden und Organisationen im Internet bilden, um gemeinsam politische Projekte zu unterstützen.

Die Folge von Crowd-Kampagnen sind ein «chaotischen Pluralismus», der unseren politischen Alltag verändern wird. Bei diesem «chaotischen Pluralismus» handelt es sich um einen Begriff, mit dem britische Wissenschaftler die Auswirkungen der sozialen Medien auf demokratische Systeme beschreiben, die durch die Nutzung digitaler Kanäle pluralistischer werden, was zugleich einen Wandel der politischen Akteure mit sich bringt. Sie sind nicht mehr nur in stabilen Interessengruppen organisiert, vielmehr handelt es sich vermehrt um lose Gruppierungen, die sich spontan durch Mobilisierung im Internet herausbilden.

Das beliebteste Werkzeug, um Crowd-Kampagnen zu starten sind Petitionen. Bereits in den 1990er Jahre wurde das Internet eingesetzt, um für Petitionen Unterstützerinnen und Unterstützer zu mobilisieren. Das traditionelle politische Instrument ist direkt in den virtuellen Raum übertragbar, da das Petitionsrecht in den meisten Ländern viel Spielraum hinsichtlich der Art und Weise der Eingabe und der dazu berechtigten Personen lässt. So können sich Nicht-Wahlberechtigte ebenso wie Kinder oder die ausländische Wohnbevölkerung an Petitionen beteiligen. Als Beleg sind keine Unterschriften nötig. Namen oder auch nur E-mail-Adressen genügen, da keine Nachprüfung erfolgt. In Ländern wie Deutschland und in Grossbritannien ist es heute sogar möglich, Online-Petitionen über offizielle Plattformen einzureichen.

Ein eigentlicher «Petitions-Boom» ist trotz den vielfältigen Möglichkeiten und niedrigen Hürden jedoch erst in den letzten Jahren zu beobachten, wobei Social Media-Kanäle wie Facebook und Twitter die Hauptrolle spielten. Die Möglichkeit der viralen Verbreitung erlaubt es, schnell und zu tiefen Kosten Unterstützerinnen und Unterstützer zu finden. Neue Petitions-Werkzeuge wie ActionSprout sind in Facebook eingebettet und helfen, die virale Wirkung der Plattform besser auszunutzen.

Trendsetter dieser Entwicklung sind internationale Plattformen wie Avaaz.org oder Change.org. Letztere hat nach eigenen Angaben über 135 Millionen Mitglieder weltweit und ermöglicht es Einzelpersonen, Petitionen in wenigen Minuten ins Internet zu stellen und in Zukunft auch Spenden zu sammeln. Mit jeweils einigen hunderttausend E-Mail-Kontakten in der Schweiz verfügen Change.org und Avaaz.org vermutlich über eine grössere E-Mail-Datenbank als alle Schweizer Parteien zusammen.

Petitionen sind oft ein Gradmesser dafür, wie Themen und Lösungsansätze in den Medien und in den Öffentlichkeit aufgenommen werden. Darüber hinaus erlaubt die Online-Sammlung den Aufbau von Adress-Datenbanken, die für weitere Projekte genutzt werden können. Insbesondere Nichtregierungsorganisationen setzen Petitionen als Marketinginstrumente ein, um Mitglieder oder Spenden zu werben. In diesem Sinne sind Petitionen – über die Wirkung auf das politische System hinaus – einen wichtigen Baustein, um eine effiziente und schlagkräftige Zivilgesellschaft herauszubilden und die Demokratie weiter zu entwickeln.

Eine Anmerkung zur Schweiz: In der direkten Demokratie spielen Petitionen eher eine geringe Rolle. Mit Volksinitiativen und Referenden auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene stehen wirksamere Werkzeuge zur Verfügung, die in direkter Konkurrenz zu Petitionen stehen, gerade wenn es darum geht ein Thema auf die politische Agenda zu setzen und die Stimmbevölkerung darüber entscheiden zu lassen. Doch die Digitalisierung der direkten Demokratie lässt auf sich warten. Deshalb habe ich wecollect.ch aufgebaut. Auf der Online-Plattform wurden bereits über 130’000 Online-Unterschriften für Initiativen und Referenden gesammelt.

Standard
Campaigning, Netzpolitik, Netzwelt, Social Media

Lawine aus Bürglen: Bürgerpetition mit über 20’000 Unterschriften für Pfarrer Bucheli

In der Heimat von Wilhelm Tell wird Geschichte geschrieben. Das beschauliche Urner Dorf Bürgen trotzt dem mächtigen Bischof von Chur, Vitus Huonder, der den Dorfpfarrer Wendelin Bucheli abservieren will. Die geforderte «Demission» ist die Reaktion auf die Segnung eines lesbischen Paares.

Die Wogen gehen jetzt auch im Netz hoch. Über 10’000 Menschen haben in den letzten 24 Stunden eine Bürgerpetition unterzeichnet (aktueller Stand 20’2280, 12.02.15 22:30 Uhr). Eine gleich lautende SDA-Meldung haben in den letzten Stunden viele Schweizer Medien übernommen.

Wenig überraschend haben SDA und viele Redaktion kaum eine Ahnung, was für eine Welle durchs Netz rollt. Sonst wären keine Sätze zu lesen wie: «Die Initianten streben als nächsten Schritt 20’000 Unterschriften an, wie der Internetseite der Petition zu entnehmen ist.»

Die neue Zielzahl von 20’000 Unterschriften stammen nicht von dem anonymen Initianten Mike C., sondern von der voll automatisieren Avaaz-Plattform, auf der die Petition gestartet wurde. Avaaz ist eines der grössten globalen Kampagnen-Netzwerke, das weltweit nach eigenen Angaben über 41 Millionen Mitglieder hat. Die Nummer 1 unter den Kampagnenplattformen, Change.org, bringt es gar auf 88 Millionen Nutzer.

avaaz_Ch

In der Schweiz hat Avaaz mit verschiedenen Petitionen über 355’000 Email-Adressen gesammelt. Die riesige Datenbank übertrumpft selbst die grössten Schweizer NGOs und Parteien um das Vielfache. Die Bürgerpetitionen sind mittlerweile ein integraler Teil von Avaaz.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Wucht dieser Web-Plattformen auch auf die Schweiz und das politische System durchschlagen wird. Die gut geölten Kampagnenmaschinen ermöglichen Einzelpersonen, die keinen etablierten Organisationen oder Parteien angehören, mit wenigen Klicks eine Online-Aktion zu starten, die mit etwas Glück einen Schneeballeffekt auslösen und rasch auf den Frontseiten landen kann.

Auf diese Weise werden Menschen, wie der bisher unbekannte Mike C, der die Avaaz-Petition «Bischof Vitus Huonder: Pfarrer Wendelin Bucheli muss in Bürglen, UR Schweiz bleiben» gestartet hat, über Nacht zum Kopf einer Protestbewegung von 20’000 Menschen.

PS: Lesenswerter Artikel zu Online-Petitionen aus der Tageswoche: «Erfolgreiches Polit-Engagement ist bloss einen Klick entfernt» (30.1.2015)

Standard