Campaigning, Medien, Social Media

Manöverkritik: Crowd-Campaigning zur Gripen-Abstimmung

Kurz vor der Landung haben wir uns mit «Panik-Plakaten» in die Gripen-Abstimmung eingemischt. «Wir» sind ein bunter Mix von Leuten, denen es offensichtlich Spass macht, Abstimmungsplakate am Laufmeter zu manipulieren und das angebliche Sicherheitsbedürfnis der Schweiz zu karikieren.

Panik Plakat Galerie
Mit wenigen Ausreissern – wie die etwa die Profi-Plakate von Thomas Oetjen – ist das handwerkliche Niveau bescheiden: Grundkenntnisse in PowerPoint oder Preview auf dem Mac genügen. Die Kunst besteht eher im versierten Umgang mit Copy/Paste sowie im kreativen Remix von Gebrauchtbildern aller Art.

Panik Plakat von Thomas Oetjen
Auf den ersten Blick wirkt die Panik-Plakate-Sammlung wie ein Bilder-Komposthaufen auf dem allerlei politische Spassprodukte mit kurzer Halbwertszeit abgelegt wurden. Der Eindruck täuscht nicht: Das Projekt ist am 8. Mai in einer virtuellen Rauchpause entstanden – ohne Auftrag und Ambitionen.

Das erste Fake-Plakat hatte ich rund drei Wochen zuvor auf Twitter veröffentlicht. Für meine Ufo-Wolke am Matterhorn gab es nur zwei Retweets. Ich war offen gesagt etwas enttäuscht.

Gipen Matterhorn UFO

Was aber lief ab dem 8. Mai anders? Nachdem ich mir erlaubt hatte, das Plakat in Reaktion auf die ulkige Hebebühnenaktion der Gripen-Befürworter erneut zu posten, staunte ich nicht schlecht, als der Blogger Philippe Wampfler eine halbe Stunde später ein eigenes «Sharknado»-Plakat präsentierte und mich damit in Sachen Trash locker toppte.

Dies weckte natürlich meinen Ehrgeiz, weshalb ich im nächsten Tweet grossspurig einen Panik-Plakat-Wettbewerb ankündigte. Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten.

Kochen mit Social Media

Bevor ich auf einige Learnings aus der Plakat-Kampagne eingehe, hier zunächst einige unfertige Gedanken, die über den reinen Spassfaktor hinaus gehen. Ich beschäftige mich schon länger mit der Frage, wie sich Social Media produktiv in politischen Kampagnen einsetzen lassen.

Was mir auffällt: Bei Abstimmungen und Wahlen wird z.B. Facebook meist nur als Like-Sammelbecken benutzt. Und dies zudem für neue Communities, die – oft mit teuren Ads – aus dem Boden gestampft werden. Manchmal entstehen aus Projekten auf Online-Kanälen auch eigenständige Geschichten, die sich vom klassischen Kampagnenstil abheben (Stichwort «Storytelling»). Diese Variante habe ich 2012 mit dem Tabak-Lobbyisten Dr. Marcel «Ziggy» Zaugg für eine Volksinitiative durchgespielt – mit durchaus gemischter Bilanz.

Weit interessanter, als das Netz als Info-Durchlauferhitzer zu verwenden, scheint mir jedoch, die höheren Sphären der «Culture of Sharing» anzupeilen. Ich nenne dies auch «Kochen mit Social Media».

Kochen mit Social Media

Denn was ich im vorigen Abschnitt beschrieben habe, sind für mich, um bei der Metapher zu bleiben, «Fertig-Pizza-Kampagnen» nach dem Motto: einfach schnell heiss machen und fertig. Diese Strategie ist darauf ausgerichtet, dass die Community den vorgegeben Content 1:1 übernimmt und weiterverbreitet. Für einzelne Posts funktioniert sie ganz ganz gut, lässt sich aber selten über längere Zeit auf dem gleichen Niveau halten.

Der «Pasta-Bolo-Content» geht da einen Schritt weiter. Der Community werden bei diesem Rezept Grundinhalte zur Verfügung gestellt, die beispielsweise mit Kommentaren angereichert und selbst zusammengemixt werden könnten. Konkret gibt man den Empfängern Anreize, um den eigenen Blickwinkel einzubringen oder – besonders effektiv auf Social Media – sich selbst in Szene zu setzen.

ohnedich.ch

Für «Pasta-Bolo-Content» sind Selfie-Kampagnen wie #BringBackOurGirls oder Ohnedich.ch gute Beispiele. Der Inhalt, der meist auf einem Stück Papier Platz hat, wird individuell und doch schematisch präsentiert. «Pasta-Bolo-Inhalt» teilt man, falls die Mitmachhürde einmal genommen ist, gerne. Er sorgt für deutlich mehr Reaktionen im Netzwerk als nur Likes & Shares zu generieren, wie dies «Fertig-Pizza-Inhalte» tun.

Die Königsdisziplin bleiben aber Kampagnen, die auf «Gourmet-Content» abzielen. Im Zentrum steht dabei das DIY-Prinzip: lass dich inspirieren, aber erstelle deine Inhalte selbst. Dazu gehört das Austesten im Freundeskreis und das Feilen an der Inszenierung (Bild, Text). Für diesen Kampagnen-Stil hat mir vor den Panik-Plakaten ein Fallbeispiel gefehlt, bei dem ich auch hinter die Kulissen schauen konnte.

Learnings aus der Panik-Plakat-Kampagne

Mein Abstecher in die Social Media-Küche liefert mir die Vorlage für eine These, die ich hiermit zur Diskussion freigebe. Sie lautet wie folgt: Klassische Polit-Kampagnen setzen auf ein einziges Plakatmotiv mit hohem Wiedererkennungswert, das in einem aufwändigen und meist kostspieligen Prozess für eine zwar definierte, aber eher breite Zielgruppe entwickelt wird. Netz-Kampagnen der Zukunft sollten auf multiple, spontane Motive setzen, die mit kleinen, unterschiedlichen Zielgruppen laufend entwickelt oder von diesen selbst produziert werden.

Ueli_Top_Gun_Panik

Nach diesen Kampagnentheorie-Loopings komme ich wie verprochen zu meinen Learnings:

1. Ohne Ping, kein Pong

Eine DIY-Kampagne lebt davon, dass sich die Leute der kreativen Herausforderung stellen. Um den gewünschten Schneeball-Effekt auszulösen, braucht es mindesten zwei gut vernetzte Leute, welche ihre Beiträge in einen Bezug zu einander setzen und sich gegenseitig motivieren, noch einmal nachzulegen. In meinem Fall war dies wie erwähnt Philippe Wampfler. Für die Startphase lässt sich das Ping-Pong natürlich auch gezielt organisieren. Das Risiko ist jedoch, dass dadurch Zufälligkeit und Spontanität verloren gehen und das Projekt insgesamt an Ausstrahlung verliert.

2. Mehr Mut zum Hashtag

Ich habe meinen Tweets zum Panik-Plakat-Wettbewerb keinen Hashtag verpasst. Mir fehlte die zündende Idee für einen kurzen und knappen Begriff. Rückblickend hätte ich mir jedoch besser ein griffiges Kürzel für die Aktion ausgedacht. Denn nur mit einem Hashtag können Aussenstehende die «Geschichte» chronologisch nachvollziehen und einordnen. Ich bin mir beispielsweise nicht sicher, ob ich – vor dem verbindenden Hashtag – alle Panik-Plakate auf dem Radar hatte. Zum Glück hat Philippe schneller reagiert und irgendwann #gripenpanik eingeführt.

3. Die Mitmachhürde senken mit einem Facebook-Album

Für die Panik-Plakate habe ich  ein öffentliches Album auf Facebook eingerichtet, in das verschiedene Leute – auch ausserhalb meines Freundeskreises – Bilder hochladen oder weitere KuratorInnen einladen konnten. Dies erwies sich als effektiv, weil sich die Mitarbeit multiplizieren lässt, ohne dass viele Dinge abgesprochen werden müssen. Doch ist ein Facebook-Album, das auf eine private Seite verweist, wirklich die cleverste Lösung? Ein nächstes Mal würde ich wohl die Plakate auch auf Instagram spiegeln und in einem WordPress-Blog die Inhalte aller Kanäle bündeln.

4. Das Biotop verlassen

Mir war bewusst, dass die Panik-Plakate kaum den Freundeskreis und unser Gesinnungs-Biotop verlassen würden. Nachdem wir ein Dutzend Werke beisammen hatten, versuchte ich, die Kampagne auch Online-Medien schmackhaft zu machen. Den Primeur sicherte sich das Bieler Tagblatt, die ich nicht direkt angesprochen habe. Etwas später brachte das Newsportal Watson einen schön aufgemachten Artikel, der unseren Pool an Plakatmachern weiter  vergrösserte.

5. Die Community vernetzen

Ein Schwachpunkt der ganzen Geschichte war, dass weder ich, noch Philippe, noch andere Plakatmacher die Rolle des Community-Organisators übernommen haben. Wer ein Plakat gebastelt hat, erhielt einen Platz in der Gallery sowie Likes und Retweets. Ein Austausch und eine breitere Diskussion über Strategien und neue Ideen fand jedoch nicht statt. Hier haben wir klar die Chance vergeben, die DYI-Leute zu vernetzen und auch ihr Umfeld stärker einzubinden.

Panik Plakat von Daniel Graf

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Hashtag-Kampagne «BringBackOurGirls»: Mein Interview auf Radio SRF3

Radio SRF 3 hat mich als Kampagnenexperten gefragt, inwiefern Tweets tatsächlich einen Beitrag zur Befreiung der entführten nigerianischen Mädchen leisten können.

Die drei Interview-Schnipsel auf Radio SRF3

Mehr zum Thema in meinem Blog «Retweet the story and your mind will follow».

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Quelle: www.foreignpolicy.com

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Retweet the story and your mind will follow: Die Hashtag-Kampagne «#bringbackourgirls» und die entführten Mädchen in Nigeria

Mitte April hat die nigerianische Islamistengruppe Boko Haram mehr als 270 Schülerinnen aus einem Internat im Nordosten des Landes entführt. Ein Drama, das auch auf Social Media weltweit hohe Wellen wirft – nicht erst, seit die Nachrichtenagentur AFP gestern ein Video der Entführer veröffentlicht hat, auf dem die Mädchen vorgeführt werden.

In den letzten Wochen wurden hunderttausendfach Tweets mit dem Hashtag «#bringbackourgirls» verschickt. Darunter auch von verschiedenen Stars und Prominenten, wie der in letzter Zeit immer politischer auftretenden Michelle Obama. Mit einem Portrait von sich im Stil der Kampagne landete die First Lady auf der Frontseite der New York Post.

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Quelle: Instagram http://instagram.com/p/ntgcjCvZKV

SRF 3 hat mich als Kampagnenexperten gefragt, inwiefern Tweets tatsächlich einen Beitrag zur Befreiung der entführten nigerianischen Mädchen leisten können. Zur Beantwortung dieser Frage muss man sich zunächst die Ausgangslage vor Augen führen. Gemäss Medienrecherchen startete die Kampagne am 23. April 2014 in Nigeria. Lanciert wurde sie von betroffenen Eltern und Aktivistinnen, die Druck auf den nigerianischen Präsidenten Goodluck Jonathan ausüben wollten, mehr für die Befreiung der entführten Mädchen zu tun. In dieser ersten Phase funktionierte die Kampagne nach dem klassischen Muster: Um den Druck auf eine nationale Regierung zu erhöhen, wird über die Bande gespielt und versucht, das Thema auf die internationale Medienagenda zu hieven. Letzteres hat im vorliegenden Fall offensichtlich funktioniert.

Was aber waren die Erfolgsfaktoren für das weltweite Agenda-Setting? Zweifellos lässt die Geschichte der entführten Mädchen niemanden kalt. Darüber hinaus komprimiert der Hashtag «#bringbackourgirls» die Ereignisse auf eine Social Media-gerechte Kurzform, die wegen ihres im Prinzip fiktiven, aber dennoch personalisierten Absenders auffällt. Viele Twitterer haben der Kampagne zudem mit den derzeit allseits beliebten Selfies, d.h. selbst aufgenommenen Portraitfotos, ein eigenes Gesicht geben, was die Sichtbarkeit auf den digitalen Kanälen stark erhöht hat.

Die virale Verbreitung via Social Media hat aber ganz klar auch ihre Schattenseiten. So wurde beispielsweise zehntausendfach ein Foto eines Mädchens verschickt, das angeblich zu den Entführungsopfern gehörte. Mittlerweile wurde bekannt, dass das Mädchen in Gineau-Bissau lebt – über 2’000 km von Nigeria entfernt – und keinerlei Bezug zu den Ereignissen hat.

fake_girl_bringbackourgirlsQuelle: http://neatoday.org/wp-content/uploads/2014/05/Bring-Back-Our-Girls-590×339.jpg

Wie im Fall der Viral-Kampagne «Kony 2012» stellen sich zudem auch hier heikle Fragen. Zum Beispiel diejenige nach den Konsequenzen einer derart erfolgreichen Aktion, die weltweit für Schlagzeilen sorgt. So befürchten einige nigerianische Medienschaffende etwa, die Kampagne könnte zu einem Boomerang werden. Denn gibt es in «Afrika» ein Problem, schickt der Westen als Sofortmassnahme in der Regel gerne Militärberater und Soldaten. In der kurzen Geschichte des 21. Jahrhunderts ist bereits ausreichend dokumentiert, dass solche militärischen Interventionen keine oder nur wenig Hilfe bringen, sondern im Gegenteil oftmals viel Leid verursachen und Menschenleben kosten.

Ist der Lärm auf den Social Media-Kanälen deshalb vor allem ein Beispiel für so genannten «Clicktivism», für wenig wirksames Feelgood-Engagement also? Allen negativen Aspekten zum Trotz: Die Hashtag-Kampagne bietet in meinen Augen zumindest die Gelegenheit, mit anderen Menschen darüber ins Gespräch zu kommen, was derzeit in Nigeria passiert. Zudem ist selbst ein simpler Re-Tweet – ganz nach dem Motto «Move your ass, your mind will follow» – eine zwar kleine, aber wichtige Aktion und eine, die angesichts der medialen Dauerberieselung mit Krisen und Katastrophen keinesfalls selbstverständlich ist.

Auch besteht die Chance, dass einige der Millionen Nutzer, die #bringbackourgirls getweetet haben, sich auch in Zukunft für nigerianische AktivistInnen und Medienschaffende einsetzen werden, die täglich ihr Leben riskieren, um gegen Menschenrechtsverletzungen im Land zu kämpfen. Und last but not least weckt die Geschichte der entführten Mädchen vielleicht auch etwas mehr Verständnis dafür, dass Menschen aus Nigeria Schutz und Sicherheit in der Schweiz und anderen Ländern suchen.

PS: Hier das SRF3-Interview zum Nachhören.

Danke an Joel Bisang fürs Feedback.

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Der Social Media-Hype oder fünf gute Gründe, weshalb Unternehmen die Finger von Social Media lassen sollten.

In Sachen Social Media herrscht derzeit Goldgräberstimmung. Viele Unternehmen versprechen sich von Facebook & Co. Zugang zu neuen Zielgruppen – zu einem unschlagbaren Preis-Leistungsverhältnis.

Die Fachhochschule für Wirtschaft Zürich hat mich anlässlich der Fachmesse SOM14 als Gastreferent zum Thema Social Media eingeladen. In meinem Vortrag habe ich über die Risiken und Nebenwirkungen von Social Media gesprochen, die nicht auf der Verpackung stehen. Hier die Kurzfassung als Blogbeitrag.

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«Sind Sie auch auf Social Media?» lautet die allgegenwärtige, ziemlich irreführende Frage. Irreführend deshalb, weil der Fragesteller eigentlich wissen will, ob ich ein Facebook-Profil besitze. Und «Facebook» und «Social Media» heute von vielen Menschen gleichgesetzt werden. Die Zahlen sprechen für sich: In der Schweiz haben Anfang 2014 über 3.4 Millionen Menschen oder stolze 41 Prozent der Bevölkerung ein eigenes Facebook-Profil. Diese enorme Verbreitung wird nur von einem altbekannten Kanal übertroffen – nämlich dem Briefkasten an jeder Haustür.

1. E-Mail-Adressen sind mehr wert als Social Media-Kontakte

Auf die Unternehmenswelt bezogen lautet die Frage: Muss jedes Unternehmen auf Facebook präsent sein? Die Antwort darauf ist simpel: Nein. Ebensowenig, wie alle Firmen auf Massen-Postversände setzen, benötigen alle Unternehmen eine Facebook-Präsenz. Denn wie beim Streuwurf via Postbote, der eine Stange Geld kostet, ist auch bei Facebook zunächst eine differenzierte Kosten-Nutzenanalyse notwendig.

Wie ich weiter unten noch detaillierter ausführen werde, bin ich bei Zuckerbergs Marketingmaschine oft skeptisch, ob sich der Aufwand für Unternehmen wirklich lohnt. Etwas anders sieht das im Fall von Twitter aus. Der Microblog mit 140 Zeichen bietet einen USP, der für viele Firmen als Joker sticht: Twitter ermöglicht einen unkomplizierten Kontakt mit Multiplikatoren und Meinungsmachern, die im Newsstrom nach Perlen tauchen. Sehr wertvoll für die Medienarbeit sind beispielsweise die «Direct Messages» an Journalisten, um kurzfristig eine Story unterzubringen. Umgekehrt gilt jedoch auch, dass Unternehmen, die keine kontinuierliche PR- oder Medienarbeit betreiben, mit gutem Gewissen auch auf Twitter verzichten können.

Der Popularität von Social Media zum Trotz bleibt aber die harte Währung im Netz nicht die Anzahl Fans oder Follower, sondern die Zahl der eigenen E-Mail-Kontakte. Im Gegensatz zu den sexy Plattformen, die meine Botschaften nach – mehr oder weniger bekannten – Spielregeln filtern oder dank Werbung tatsächlich anzeigen, landet ein E-Mail stets direkt im persönlichen Briefkasten des Adressaten – und dies bei Zehntausenden von Menschen gleichzeitig. Für Kampagnen, die auf einen crossmedialen Wahrnehmungs-Peak abzielen, erfüllen E-Mails damit eine wichtige Zielvorgabe.

2. Das Lockvogel-Prinzip

Social Media sind heimtückisch. Und zwar deshalb, weil alle Plattformen nach dem Lockvogel-Prinzip arbeiten. Konsumenten kennen dieses Prinzip mittlerweile bestens: Wer beispielsweise einen preiswerten Drucker kauft, weiss, dass die Preisangabe auf der Packung nur die halbe Wahrheit ist. Denn Geld wird mit den teuren Druckerpatronen verdient. Auch Facebook & Co. arbeiten nach dem Lockvogel-Prinzip, gehen dabei aber noch einen Schritt weiter: Der Start in die schöne Social Media-Welt ist gratis.

Ist jedoch die neue Facebook-Fanpage einmal eingerichtet, wird rasch der Griff ins Portemonnaie notwendig. Oft sorgen erst Facebook-Ads für die gewünschte Interaktion und gewährleisten, dass tatsächlich neue Zielgruppen erreicht werden. Das Problem liegt hier auf der Hand: Die Zahl von Menschen und Marken, die auf Facebook präsent sind, steigt stetig, womit auch die Konkurrenz um die Aufmerksamkeit zunimmt. Gemäss Facebook stehen heute für einen durchschnittlichen Nutzer theoretisch täglich über 1’500 Meldungen bereit.

Die für bezahlte Werbung anfallenden Kosten sind jedoch geradezu Peanuts im Vergleich zum Aufwand, den ein Unternehmen betreiben muss, um gute Inhalte zu generieren. Aus Spargründen wird deshalb oft Bestehendes rezykliert, statt Neues produziert. Statt spezifischem Social Media-Content stellen Firmen beispielsweise oft bereits vorhandenes Material – etwa aus Medienmitteilungen oder anderen Veröffentlichungen – auf die neuen Kanäle. Derart rezyklierte Inhalte sorgen selten wirklich für Begeisterung, was sich unmittelbar auf die Anzahl «Likes» auswirkt.

Bevor sich ein Unternehmen auf Social Media stürzt, sollten sich die Verantwortlichen fragen, ob die Bereitschaft vorhanden ist, aktuelle und gut konsumierbare Webinhalte mit hohem Mehrwert zu produzieren. Oder konkreter: Ob ein Firmen-Blog eine Option ist. Denn Unternehmen, die weder Zeit noch Geld für die Produktion von Blog-Inhalten aufwenden wollen, verfügen in den wenigsten Fällen über passende Inhalte für Social Media. Und spezifisch für’s Web konzipierte Beiträge sind nach wie vor das A und O, um auf diesen Kanälen Reichweite zu erzielen.

3. Social Media funktionieren nicht wie ein Popkonzert

«Wir bauen uns eine eigene Community!» lautet ein oft gehörtes Vorhaben von Social Media-Verantwortlichen von Unternehmen. Ein attraktives Konzept, denn tatsächlich gibt es auf Facebook viele grosse, lebendige, bunte Gemeinschaften. Doch abgesehen von einigen, vielzitierten Ausnahmefällen sind alle erfolgreichen Communities ohne Geburtshilfe von Unternehmen entstanden. Der Aufbau einer funktionierenden Community ist ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Es lauert die Gefahr einer Wiederholung der immer gleichen Themenvariationen. Ich mag zwar SBB, Migros und viele andere Marken. Ihre Facebook-Posts sind jedoch nicht viel mehr als unnötiger Füllstoff in meiner Timeline, dem ich selten Beachtung schenke.

Ein typischer Fehler vieler Unternehmen ist, dass sie Facebook als eine Art Popkonzert begreifen: Oben auf der Bühne rockt der Community Manager und unten klatscht das Publikum – zumindest ab und zu. Ein fataler Irrtum, leben doch engagierte Gemeinschaften von einem regen gegenseitigen Austausch. Eine Bühne trennt in diesem Fall mehr, als dass sie Beziehungen schafft.

Unternehmen sollten sich deshalb die Frage stellen, ob sie wirklich nicht mehr von ihren Fans und Followers wollen, als ein kleines bisschen Aufmerksamkeit. Ob es beispielsweise denkbar wäre, dass die Community einen Beitrag leistet, um Produkte und Dienstleistungen zu verbessern und weiterzuentwickeln. Wer der Community keine aktive Rolle zugesteht und sich nur brave Multiplikatoren wünscht, wird die Leute längerfristig nur mit viel Show und Lärm bei der Stange halten können. Kein besonders nachhaltiges Konzept, das zudem das Potenzial von Social Media bei weitem nicht abschöpft.

4. Offene Kritik ist selten erwünscht

Spätesten seit der Begriff «Shitstorm» die Runde gemacht hat, ist klar, dass es sich mit dem Dialog auf Social Media verhält, wie mit einem wilden Kindergeburtstag – eben noch friedlich kann er unvermittelt aus dem Ruder laufen. «Dialog» meint immer auch «offenen Meinungsaustausch»; in Bezug auf Social Media geht allerdings gerne vergessen, dass der Austausch hier nicht nur «offen», sondern automatisch auch «öffentlich» ist.

Die neue Transparenz ist vielen Unternehmen unangenehm, weil insbesondere die Verantwortlichen in den oberen Etagen oft nicht so recht wissen, wie mit kritischen Rückmeldungen umzugehen ist. Ein Dutzend negativer Kommentare auf Facebook können schnell einmal zu einem Traktandum an der nächsten GL-Sitzung werden. Die Diskussion dreht sich dabei oft nicht um den Inhalt der Kritik, sondern um die Frage, wie dem «drohenden Reputationsschaden» zu begegnen ist. Und wenn die Teppichetage nicht mit öffentlicher Kritik umgehen kann, ist die Chance gross, dass Facebook den Chefs und damit wohl auch dem Kommunikations-Team regelmässig den Tag vermiesen wird.

5. Social Media ändern die Spielregeln

Je länger ich mich mit Social Media befasse, desto unbedeutender scheinen mir die Herausforderungen technischer und inhaltlicher Art. Viel schwerwiegender ist für mich der kulturelle Wandel, den die neuen Kanäle mit sich bringen.

Social Media stehen für mich für eine direktere Kommunikation mit weniger Barrieren und Hierarchien. Die Kanäle vernetzen zudem eine wachsende Zahl von Menschen, die sich oftmals physisch noch nie begegnet sind. Wenn sich dadurch etablierte Grenzen verschieben – in Bezug auf Unternehmen etwa die Grenzen dessen, was als «intern» und was als «extern» gilt – ändern sich rasch die Spielregeln der Zusammenarbeit in einem Betrieb.

Das Ausprobieren der neuen Möglichkeiten von Social Media beeinträchtigt bis zu einem gewissen Grad das gefestigte Gefüge in einem Unternehmen. Dies macht – nicht nur in der Kommunikationsabteilung, sondern auch in anderen Unternehmensbereichen – Anpassungsleistungen mit entsprechenden Kosten notwendig. Ein wichtiger Faktor ist dabei weniger das Geld, sondern die Unsicherheit, die mit jedem Wandel einhergeht: Was wird sich in Zukunft gezwungenermassen alles ändern? Was bleibt gleich? Und was heisst das für meine Arbeit?

Die Social Media-Welle rollt und wird früher oder später jedes Unternehmen erreichen. Trotzdem macht es für die Verantwortlichen durchaus Sinn, sich zu fragen, ob aktuell Zeit und Ressourcen vorhanden sind, um sich auf tiefgreifende Veränderungen einzulassen. Denn es ist trotz aktuellem Hype keineswegs so, dass jedes Unternehmen möglichst rasch eine eigene Social Media-Präsenz braucht. Für viele Unternehmen besteht hier durchaus noch ein Spielraum von ein paar Monaten, wenn nicht gar von ein paar Jahren. Oder wie es ein Bekannter von mir letztens formuliert hat: «Eine Strategie zu haben, heisst, zum richtigen Zeitpunkt nein zu sagen». Dies gilt – wie mir scheint – ganz besonders auch für die Teilnahme am aktuellen Social Media-Hype.

Danke an Joel Bisang fürs Feedback zum Blog.

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Campaigning, Netzpolitik, Social Media

Email-Mais im Bundeshaus

Heute hat Solidar Suisse eine für die Schweiz neuartige Kampagne gestartet. Die Mitglieder der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates (APK-N) haben in den letzten Stunden über 1000 Emails erhalten.

APK-N

Absender sind BürgerInnen, die bestürzt darüber sind, dass das geplante Freihandelsabkommen mit China die Menschenrechte ausklammert. Das Wort «Menschenrechte» sucht man vergeblich in den über 1000 Seiten des Vertragstextes. Die Parlamentarier der APK-N diskutieren am Montag 21. Oktober 2013 über das Freihandelsabkommen. Bisher deuten alle Anzeichen darauf hin, dass der umstrittene Vertrag geräuschlos durchgewunken wird.

Solidar_Clip

Interessant ist die Mechanik, die hinter der Kampagne steht. Für Aufmerksamkeit sorgt, wie bereits bei anderen Kampagnen, ein witzig gemachter Youtube-Clip. Der Still ist darauf ausgelegt, dass das Video möglichst oft via Social Media geteilt wird und so BesucherInnen auf die Website Solidar Suisse bringt.

Die Neuheit verbirgt sich hinter der Website. Ein Modul verschickt automatisch an alle Nationalräte der APK-N persönlich adressierte Emails. Die Absender können dazu den vorgeschlagenen Text frei anpassen.

Solidar

Es ist meines Wissens das erste Mal, dass Schweizer ParlamentarierInnen die Wucht einer Empörungswelle zu spüren bekommen. Im Gegensatz zu organisierten Protesten via Facebook und Twitter treffen Emails das Rückgrat der Alltagskommunikation. Einige Hundert Emails im Sekundentakt reichen aus, um ein Postfach komplett zu fluten.

Kein Wunder also, dass sich die betroffenen Parlamentarier als Opfer eines «Shitstorms» betrachten. Ein überquellendes Postfach ist keine Freude. Das Abarbeiten kosten Zeit und Nerven. Gleichzeitig handelt es sich bei den Absendern der Solidar-Aktion nicht um einen anonymer Mob, sondern um – zum grossen Teil vermutlich wahlberechtigte – Bürgerinnen und Bürger, die sich mit vollem Namen und Email-Adresse für ein Anliegen stark machen.

Ich bin gespannt, wie die PolitikerInnen auf die Email-Welle reagieren, zumal sich die Absender explizit «über eine Antwort freuen» würden, wie es im Standard-Text heisst.

UPDATE 17.10.13 21:56

Solidar Suisse hat vor kurzem die Email-Aktion an die ParlamentarierInnen beendet. Insgesamt wurden 1’017 persönlich andressierte Emails an die Mitglieder der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats verschickt (APK-N). Die Botschaft sei angekommen, schreibt Solidar Suisse.

Solidar_Update

UPDATE 19.10.13

Neben der Tagesschau berichtete auch der Blick über die 1000-Email-Aktion und titelte «Spam-Terror wegen Freihandelsabkommen». Bürgerlichen PolitikerInnen wie Kommissionspräsident Andreas Aebi, die für das umstrittene Freihandelsabkommen sind, beschwerten sich über die kontraproduktive Aktion für die Menschenrechte. Wer dem Geschäft kritisch gegenübersteht, wie die St. Galler Nationalrätin Claudia Friedl, zeigte durchaus Sympathie für die Aktion.

Sicher ist: Eine  Email-Welle muss gezielt und sparsam eingesetzt eingesetzt werden. Sie gehört nicht zu den Standardmassnahmen für Campaigning.

UPDATE 22.10.13 14:02

Die Kommission winkt das umstrittene Freihandelsabkommen durch: Mit 14 zu 6 Stimmen  hat sich die APK-N für die Genehmigung des vom Bundesrat ausgehandelten Abkommens ausgesprochen. Mit 15 zu 6 Stimmen  abgelehnt wurde der Antrag, den Bundesbeschluss dem fakultativen Referendum zu unterstellen. (Quelle: Medienmitteilung).

Disclaimer: Ich habe bei dieser Kampagnen nicht mitgearbeitet. Meine letzte Online-Aktion für Solidar Suisse war der FIFA-Hack.

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